Die Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn zum Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen mit Behinderung.
Freiheit, Unabhängigkeit, ein selbstbestimmtes Leben – danach strebt ein Großteil aller Menschen. Der Wunsch sich nach den eigenen Vorstellungen entfalten zu können und ungehindert Entscheidungen zu treffen, bildet sich schon im Kindesalter, verstärkt sich in der Jugend und verschwindet mit zunehmendem Lebensalter nicht. Zweifelsohne fällt die Realisierung eines selbstbestimmten Lebens Menschen mit Behinderung in den allermeisten Fällen schwerer, als Menschen ohne Behinderung. Zu zahlreich sind die oftmals noch unüberwindbaren Barrieren, z.B. bestehend aus Vorurteilen und Diskriminierungen oder baulichen und kommunikativen Hindernissen.
Um diese Situation behinderter Menschen zu verbessern, wurde die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erlassen, welche vor zehn Jahren von Deutschland ratifiziert wurde. Die Konvention konkretisiert die universellen Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen und stellt klar, dass diese ein uneingeschränktes und selbstverständliches Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft besitzen. In wie weit unsere Gesellschaft diesem Ziel in den vergangenen zehn Jahren nähergekommen ist, lässt sich sicherlich kritisch hinterfragen. Doch ist die Umsetzung scharf zu kritisieren, jedoch nicht die UN-BRK selbst. Die UN-Behindertenrechtskonvention nimmt die Gesellschaft und vor allem die Politik in die Pflicht, die Barrieren, welche Menschen mit Behinderung an Teilhabe und Selbstbestimmung hindern, abzubauen.
So ist es nicht hinnehmbar, wenn die Politik sich gegen dieses Credo wendet und sogar versucht neue Barrieren für Menschen mit Behinderung zu errichten. Doch genau dies geschieht in Form des aktuellen Gesetzesvorhaben von Gesundheitsminister Jens Spahn für das Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz (RISG). Die häusliche Krankenpflege ermöglicht es pflegebedürftigen Patienten, vor allem aber auch behinderten Menschen, die auf eine dauerhafte Beatmung angewiesen sind, ambulant und damit in den eigenen vier Wänden zu leben. Mit dem nun vorgestellten Gesetzesentwurf soll hingegen die stationäre Unterbringung in speziellen Einrichtungen für alle “Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege” zur Regel werden. Dies bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Selbstbestimmung der betroffenen Menschen mit Behinderung. Damit steht der Gesetzesentwurf in krassen Wiederspruch zur UN-BRK, immerhin geltendes Recht in Deutschland.
Die Pläne des Gesundheitsministers sind nicht bloß theoretische Überlegungen im luftleeren Raum. Sie beeinflussen das Leben der betroffenen Menschen, bedeuten tiefe Einschnitte in persönliche Lebensplanungen und stellen Menschen mit Behinderung vor existentielle Entscheidungen. So auch Eva Maria Michels (34 Jahre). Zum Studium ist sie vor vielen Jahren nach Köln gekommen und lebte zunächst mit Assistenz im Studentenwohnheim. Auf Grund ihrer fortschreitenden Behinderung musste sie das Studium abbrechen, entschloss sich aber gegen einen Rückzug ins Elternhaus. Mit Hilfe des Persönlichen Budgets baute sie sich ein gut-funktionierendes Assistententeam auf, das passgenau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Dank dieser Unterstützung war es Eva Maria Michels möglich, in der Stadt ihrer Wahl wohnen zu bleiben und ihren Freundeskreis nicht verlassen zu müssen. Sie lebt die vielzitierte Selbstbestimmung Tag für Tag, in Wohnen, Freizeit und vielen Bereichen mehr. Durch eine Zwangseinweisung würde Eva Maria Michels alle Selbstbestimmung, die sie sich jahrelang hart erarbeitet und erstritten hat, mit einem Streich genommen. Dies wäre für sie „kein lebenswertes Leben mehr“. Ihre Mutter ist überzeugt, dass eine derartig extreme Fremdbestimmung auch von allen nichtbehinderten Menschen, als krasses Unrecht erkannt werden muss.
Auch Nicole Andres (29 Jahre), EUTB-Beraterin und selbst von den potenziellen Auswirkungen des Gesetzesvorhabens betroffen, sieht ihr Recht auf Selbstbestimmung und das aller betroffenen Menschen mit Behinderung in Gefahr. Diese Befürchtung äußerte sie in einem vielbeachteten offenen Brief an Jens Spahn: „Der von Ihnen vorgelegte Gesetzesentwurf widerspricht Artikel 19 der UN-BRK, wonach alle Menschen, das Recht haben, zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen und nicht gezwungen sind, in besonderen Wohnformen zu leben. Dafür sollen sie vom Staat die entsprechende Unterstützung erhalten. Deutschland hat die UN-BRK ratifiziert und sich dem Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung ausdrücklich verpflichtet. Die Artikel 1 und 11 des Grundgesetzes geben vor, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und jeder Mensch das Recht hat, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. In Artikel 3 Grundgesetz wird ausdrücklich festgehalten, dass niemand aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Ihr Vorhaben ist unter Betrachtung dieser Umstände nicht gesetzes- und menschenrechtskonform.“
Der Protest gegen das Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz ist groß, vielfältig und bundesweit. Petitionen, Demonstrationen und Stellungnahmen stellen sich ihm fast täglich entgegen. So auch die Stellungnahme des Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben (KSL) für den Regierungsbezirk Köln, die detailliert und juristisch-präzise die Unannehmbarkeit des Entwurfs offenlegt. Ellen Romberg-Hoffmann, Projektleiterin des KSL Köln, bezieht klar Stellung: „Das RISG verstößt gegen die UN-Menschenrechtscharta. Deshalb widersprechen wir mit unserer Stellungnahme gegen diese Gesetzesvorlage von Jens Spahn. Des Weiteren unterstützen wir alle Menschen, die auf Beatmung angewiesen sind, bei ihrem Protest und der Um- und Durchsetzung ihrer eigenen Lebensziele, wie Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Unterstützen Sie dies und fordern Sie mit uns die Zurücknahme des Gesetzesvorhabens!“
Weiterführende Links:PetitionStellungnahme KSL KölnBrief Nicole AndresStellungnahme KSL DetmoldDemonstrationsaufruf (20.09.2019, Düsseldorf)