Über den Gesetzentwurf zur Stärkung von intensiv-pflegerischer Versorgung und medizinische Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (Intensivpflege-und Rehabilitationsstärkungsgesetz – GKV-IPReG), BT-Drucksache 19/19368, wird am 2. Juli 2020 im Bundestag wahrscheinlich abschließend beraten. Viele beatmete Menschen fürchten um ihr hart erkämpftes Recht auf die freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform, der geleisteten Unterstützungen und letztlich um ihre selbstbestimmte Lebensführung.
Wir, der Verein „Selbstbestimmt Leben“ Behinderter Köln e.V., solidarisieren uns mit Betroffenen, Angehörigen und anderen Menschen in diesem Protest. Wir haben zu einem spontanen Flash-Mob am 1. Juli 2020 vor dem Kölner Dom aufgerufen.
Seht selbst das Ergebnis: Link zum KSL Köln
Hier auch der Link zum Video.
Bestrebungen im Gesetzentwurf wie zum Beispiel, dass die besonderen Bedarfe intensiv-pflegerischer Versorgung zukünftig berücksichtigt und damit eine qualitätsgesicherte Versorgung nach aktuellem medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Standard angestrebt und Fehlanreize und Missbrauchsmöglichkeiten beseitigt werden sollen, sind zunächst positiv. Zudem wird die Wahl der Lebensführung in der eigenen Häuslichkeit als gleichberechtigte Möglichkeit benannt.
Lesen wir den Gesetzesentwurf aber genauer, wird die Ausübung des gewährleisteten Rechts auf eine freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform jedoch nicht den Betroffenen selbst zugesprochen, sondern die gesetzlichen Krankenkassen bzw. der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK), wird diese Entscheidung fällen. Der MDK soll über die sogenannte Teilhabefähigkeit der beatmeten Menschen entscheiden. Des Weiteren werden Leistungen, die im ambulanten Bereich bislang finanziert wurden, gestrichen und es werden Ungleichbehandlungen zwischen beatmeten Menschen getroffen, je nachdem welchen Krankheitsverlauf sie haben und in welcher Wohnform sie leben.
Es hat sich starker Protest gegen die Abschwächung und Abschaffung grundlegender Errungenschaften, die behinderte Menschen in den letzten Jahren erstritten haben, formiert. Ein großer Schritt hin zur Gleichbehandlung von behinderten und nicht behinderten Menschen war 2009 die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Seitdem ist sie geltendes Recht in Deutschland und in verschiedenen anderen Vertragsstaaten. Es ist nicht nur die UN-BRK, die die Rechte behinderter Menschen stärkt und Behinderte anderen Menschen gleichstellt. In der UN-BRK sind jedoch grundlegende Normen und Ziele in einem menschenrechtsbasierten Ansatz niedergeschrieben. Zudem hat sie keinen alleinigen nationalen Status, sondern ist international gültiges Recht.
In Art. 19 UN-BRK ist beispielsweise niedergeschrieben, dass alle Menschen das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes und der Wohnform haben. Art. 19 UN-BRK ist ein Jedermanns-Recht; es ist gültig für jeden Menschen. D.h., die notwendigen Unterstützungen oder Hilfen für behinderte Menschen sind am jeweiligen Wohnort und in der jeweiligen Wohnform zu erbringen. Die notwendige Unterstützung folgt der selbst gewählten Wohnform und nicht umgekehrt.
Dem menschenrechtsbasierten Ansatz folgend wird der Rechtsanspruch auf Teilhabe unabhängig von individuellen Fähigkeiten des Einzelnen für jeden Menschen begründet. Es erfolgt keine Differenzierung und damit Diskriminierung nach Fähigkeiten und Fertigkeiten des Einzelnen. Im neuen Gesetzesentwurf zum IPReG soll nun der Medizinische Dienst der Krankenkassen die Teilhabefähigkeit des Patienten beurteilen. Nicht nur wird damit die Entscheidung über die eigene Teilhabe in fremde Hände gelegt, es erfolgt ein Rückschritt der Errungenschaften behinderter Menschen durch die Anwendung des medizinischen bzw. sozialen Modells von Behinderung. Darüber hinaus werden Kostenübernahmen für intensiv-pflegerische Maßnahmen im eigenen ambulanten Wohnumfeld reduziert und Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, ungleich behandelt. Die Kosten werden auf die Betroffenen selbst und auf die Sozialämter, die ihre Leistungen nur in Form einer Art Notfall-Rettungsschirm erbringen, abgewälzt.
In der Gruppe „Freiheit für die Gänsegurgel“, die vom ALS e.V. initiiert wurde, sowie anderen Aufrufen zum Protest wird dazu aufgefordert, sich in einem „Stillen Protest“ zu solidarisieren, in dem sich Menschen mit einer Decke über dem Kopf fotografieren lassen. Die über den Kopf geworfene Decke symbolisiert nicht nur den Menschen, der aus der (Teilhabe-)Gesellschaft verschwindet, weil ihm seine Rechte abgesprochen werden. Sie symbolisiert auch, dass behinderte Menschen erneut nicht in ihren Bedürfnissen und Unterstützungsformen (an-)gehört wurden.